Der Landhausstil ist tot, lang lebe der Landhausstil! Während man hierzulande rätselt, ob Landhausküchen dem modernen Purismus zum Opfer gefallen sind, erlebt dieser Look in unseren Nachbarländern eine facettenreiche Neuerfindung aus traditionellen und modernen Einrichtungselementen. Der Landhausstil ist vielfältiger, als ihm oft nachgesagt wird – das zeigt sich allein schon in Frankreich, wo zwei völlig unterschiedliche Ausrichtungen koexistieren. Die entscheidenden Komponenten: Historie und Umwelteinflüsse.
Unter diesem Link direkt zum Landhausstil der Normandie springen.
Wer wissen will, was den französischen Landhausstil ausmacht, wird ausgerechnet in der thailändischen Hauptstadt Bangkok fündig. „Le Normandie“ heißt dort ein preisgekröntes, mit zwei Michelin-Sternen bedachtes Restaurant im obersten Stockwerk des noblen Mandarin Oriental Hotels, das einen spektakulären Ausblick auf den Fluss Chao Praya bietet. Der „Fluss der Könige“ schlängelt sich wie eine Lebensader quer durch die geschäftigen Viertel und luxuriösen Wolkenkratzer der Millionenstadt. Von hupenden Rikschafahrern, feilschenden Marktleuten, Lärm und Abgasen ist man hier oben im „Le Normandie“ jedoch nicht nur physisch weit entfernt. Die luxuriöse Welt aus erlesenen Gaumenfreuden und feinstem Tischgeschirr beginnt beim dick gesteppten Teppich am Eingang des Restaurants, der jedes Geräusch verschluckt und in einen wattierten Prunk aus französischer Noblesse entführt.
Der Landhausstil lässt sich in keine Schublade stecken – schon gar nicht in Frankreich
Die Normandie präsentiert sich hier äußerst glamourös. Üppige Blumenarrangements in dickbäuchigen Glasvasen, glitzernde Kronleuchter, schwere Marmortischplatten und dick gepolsterte Sitzgarnituren aus feinem Velours fügen sich zu einem hocheleganten Bild zusammen, das die Normandie – stellvertretend für Frankreich – fernab der Heimat repräsentieren soll. Allein: weder der Landhausstil noch die Normandie lassen sich in eine, schon gar nicht in diese, Schublade stecken.
Es beginnt schon damit, dass die Normandie charakterlich so ganz anders ist als ihr schwesterlicher Part der verträumten Provence. Schroffe Steilküsten, ein rauer Atlantikwind und über weite Strecken unbewohnte Prärie mit einsam grasenden Schafen haben einem wilderen, ursprünglicheren Landhausstil Platz gemacht, als es in der lieblichen Provence mit ihrem warmen Mittelmeerklima und wogenden Lavendelfeldern der Fall ist. Der runde, weiche, verspielte Landhausstil, den man oft mit Frankreich in Verbindung bringt, sieht bisweilen in der Normandie ganz anders aus.
Rustikal statt verträumt: der Landhausstil in der Normandie
Gemein haben die beiden Stilrichtungen des Landhauses allenfalls die charakteristischen Rahmenfronten, die vitrinenartig verglasten Oberschränke und den Hang hin zur wohnlichen Ausstattung der Küche, die sich auch hierzulande deutlich von anderen Küchenstilen unterscheidet. Je weiter nördlich der Landhausstil jedoch angesiedelt ist, desto rustikaler wird er. Das mag der Landstrich seiner historischen Vergangenheit zu verdanken haben, der einst von Wikingern („Nor-Mannen“) besetzt wurde und sich später unter Wilhelm dem Eroberer das heutige Großbritannien als König von England untertan machte. Anglo-skandinavische Einflüsse finden sich bis heute im Einrichtungsstil der Normandie wieder, darunter auch in der Küche.
An die Stelle von hellen Farben, floralen Mustern und sanften Baumwolltextilien, die den Landhausstil der Provence verspielt und sinnlich wirken lassen, treten verchromte, schwere Küchengeräte, dunkles Holz, kupferfarbiges Küchengeschirr und Elemente des Industrial Style in der Normandie. Der Landhausstil hat hier bisweilen Anklang am „Shabby Chic“, der auf Möbel setzt, die bewusst auf alt getrimmt sind.
Das erzeugt ein folkloristisches Bild, das auf Einfachheit und Handwerk setzt. Im Mittelpunkt steht der Werkstoff Holz, der gebeizt, sandgestrahlt und farbig lackiert wird. Küchen im Landhausstil sind gern farbenfroher Mittelpunkt einer Wohnung, in der handwerklich ausgereifter Käse und einfacher Apfelwein serviert werden anstelle von Trüffel und Meeresgetier. Hellblau, apfelgrün oder dunkelgrau sind die traditionellen Küchen des Landhausstils, die sich durchaus mit modernen Edelstahl-Applikationen kombinieren lassen.
Traditionelle und neue Elemente kombiniert: Kupfer, Holz und Stahl
Massive Kochstationen, die Backofen und Kochfeld vereinen und mit verchromten Stangen, gusseisernen Türen und ringbesetzten Gaskochfeldern ausgestattet sind, bilden das mächtige Herz dieser Landhausküchen. Sie stammen von französischen Manufakturen wie La Cornue oder Lacanche, die jedes Gerät auf Maß und von Hand anfertigen. Jedes Unikat zeigt die Liebe zum Handwerk und zum Detail, das sich auch in der Raumumgebung der normannischen Küche wiederfindet – sogar in den modernen Varianten. Fronten und Tischbeine werden nach wie vor gern mit aufwändig gecarvten Mustern verziert, während die darüber baumelnde Pendelleuchte in mattem Schwarzstahl überraschend puristisch erstrahlt.
Der Gegensatz aus alt und neu, üppig und bescheiden, rustikal und wohnlich im normannischen Landhausstil lädt zur individuellen Verwirklichung ein. Moderne Designs der Landhausküche binden mit Vorliebe Elemente aus Kupfer ein, dessen rötlich schimmernde Oberfläche sich besonders reizvoll zu dunkel lackierten Rahmenfronten einsetzen lässt. Auch getöntes Glas, glasierte Rückwandkacheln nach Art von Metrofliesen und filigrane Regale aus schwarz gepulverten Stahlstreben passen sich dem rustikalen Look des normannischen Landhausstils an und holen ihn aus seiner traditionellen Versenkung heraus. Trotzdem bleiben typische Materialien des Landhausstils wie Keramik, Lack und natürlich Holz bewahrt.
Der Landhausstil in anderen europäischen Ländern: maximal wandelbar
Das hohe Verwandlungspotenzial des Landhausstils mag im Übrigen der Grund sein, warum dieser Stil neben den aktuell mit Vorliebe geplanten, puristischen Küchen auch in Zukunft Bestand hat. Während man sich hierzulande gerne fragt, „ob der Landhausstil noch immer angesagt ist“, braucht man nur in unsere Nachbarländer zu blicken: der englische Landhausstil gilt als gemütlich und stilvoll, der französische Landhausstil je nach Region als elegant und prunkvoll oder als urban und rustikal. Und der skandinavische Küchenstil, der als „Scandi-Chic“ auch hierzulande oftmals imitiert wird? Ist nichts anderes als eine minimalistischere Form des Landhausstils, in dem die feinen Linien der Rahmenfronten angedeutet werden und sichtbare Merkmale wie Bügelgriffe oder Schnörkelkunst zugunsten einer schlanken, grifflosen Version verschwinden.
Damit schließt sich übrigens auch der historische Kreis um die einstige Besiedelung der Normandie: selbst in der französischen Wohnküche finden sich heute noch Einflüsse aus Skandinavien und England wieder.
Die Zukunft der Landhausküche: bedeutend in Zeiten des „Cocoonings“
Bleibt die Frage, wohin sich der moderne Landhausstil entwickeln wird. Die Zeichen der Zeit stehen auf Gemütlichkeit: 2020 wurde als das Jahr des „Cocoonings“ ausgerufen; ein Begriff, der umschreibt, wie heimelig wir uns zuhause einrichten, wenn vor der Tür Unsicherheit und Stress unseren Alltag dominieren. Der Küchenraum gilt wieder vermehrt als Ankerpunkt, in dessen komfortable Zone wir uns zurückziehen und ganz wir selbst sein können.
Dazu gesellt sich ein verstärkter Einsatz von sichtbaren Holzelementen im Küchenraum, der wieder mehr Wohnlichkeit und Wärme in eine puristische Küchenwelt aus Stein, Glas, Lack und Stahl bringen soll. Der Messeausblick 2020/21 verrät, dass besonders dunkle Hölzer auf dem Vormarsch in den offenen Küchen- und Wohnraum sind. Wie man diese einsetzt, zeigt die Normandie in rustikaler Manier.
Die noble Schublade, in die das Luxushotel Mandarin Oriental den französischen Landhausstil steckt, steht zwar weiterhin offen. Aber daneben gibt es noch viele weitere Schubladen, die es zu entdecken gilt. Manchmal muss man eben erst weiter wegfahren, um etwas aus nächster Nähe zu sehen.