Kaum ein Handwerk wird so unterschätzt wie die Kunst der Glasbläserei. Dabei sorgte das Gewerk früh für Anerkennung und Reichtum im historischen Tschechien – und zugleich für einen hohen Absatz an Bier. Warum? Das erklärt sich im Laufe unseres Textes ebenso wie die Existenz der jungen, kreativen Designszene Tschechiens, die das Material Glas mit exzentrischen Entwürfen immer wieder neu erfindet und daraus aufregende Leuchten, Vasen und Gläser für den modernen Wohnraum schafft.
Es ist an der Zeit, mit so einigen Vorurteilen aufzuräumen. Das traditionelle Handwerk der Glasbläserei: Es erinnert an Schulausflugsziele, familienfreundliche Schaunachmittage, an das stille Bewundern alter Gewerke, die in Wahrheit längst überholt sind von der Massenproduktion chinesischer Großbetriebe. Kristallglas? Steht bei Oma im Schrank. Buntglas? Findet sich mit Blei versetzt in großformatigen Kirchenfenstern wieder. Das viel gerühmte böhmische Glas? Wird zu antik anmutenden Amphoren verarbeitet und dabei von regionalen Drittsendern mit der Kamera begleitet. Langweilig? Mitnichten.
Die Wahrheit ist, dass Glas noch immer zu den größten Exportgütern unseres Nachbarlands Tschechien zählt und dort viele junge Designer sich des filigranen, aber harten Werkstoffs angenommen haben. Glas boomt – als skulpturale Leuchte, als exzentrisch geformtes Trinkglas, als ambitioniert extravaganter Kristallleuchter.
Glas, speziell das tschechische Glas aus den bekannten Glashütten des Böhmerwalds, gilt als enorm hochwertig und wandelbar. Längst hat sich eine Designszene in der tschechischen Hauptstadt Prag gebildet, die die inspirierenden Kreationen junger Designer feiert und dabei die stolzen Wurzeln des Landes mit einem globalen Verständnis von Architektur verknüpft. Das jahrhundertealte Nationalgut der Glasbläserei findet Eingang in modernes Kunstdesign. Ein Schauplatz der Verwirklichung ist dabei: die Küche. Doch dazu später mehr.
Tschechische Glasbläserei: Wasser, Sand, Kalk – und viel Bier
Wer sich mit der Historie von Glas beschäftigt, stellt schnell fest, dass die weit zurückliegenden Anfänge dieses Handwerkszweigs bis heute ihre Schatten vorauswerfen. Bereits im 12. Jahrhundert wurden die ersten Glasbläsereien im mitteleuropäischen Raum urkundlich erwähnt, die sich damals vorwiegend im böhmischen und bayerischen Wald angesiedelt hatten. Die mineralreiche Umgebung und der in rauen Mengen vorhandene Vorrat an Brennholz förderten die Niederlassung vieler kleiner Glashütten in diesen Gebieten. Besonders das ehemalige Böhmen, heute ein fester Bestandteil Tschechiens, wurde rasch bekannt für seine enorm hochwertige Kristallglas-Produktion. Quarzsand, Kalk und Wasser, die drei Hauptbestandteile für die Herstellung von Glas, werden noch heute im großen Maß direkt vor Ort gefördert.
Die Entwicklung der Glasmacherei und Glasbläserei hängt übrigens durchaus mit einem anderen florierenden Wirtschaftszweig Tschechiens zusammen: Weil Glasbläser während ihrer körperlich anstrengenden Tätigkeit stundenlang den extrem hohen Temperaturen der Feuerstelle ausgesetzt waren, sahen Verträge zwischen Grundherren und Eigentümern der Glashütte oftmals die unbegrenzte Inanspruchnahme von Bier vor. Es ist also wenig verwunderlich, dass sich ausgerechnet diese beiden Güter als Exportschlager Tschechiens bis heute bewährt haben.
Junge tschechische Designszene: exaltierte Glaskunst – mit den Wurzeln der Glasbläserei
Wie viel Bier die junge tschechische Designszene konsumiert, ist zwar nicht überliefert, zwangsläufig darf man aber wohl annehmen, dass die zahlreichen Preisauszeichnungen für tschechische Glaskunst ausgiebig begossen werden. Zur Elite der namhaften Künstlerriege, die zunehmend auch international Beachtung findet, zählen Designateliers wie DECHEM, Qubus und deFORM, aber auch Einzelkünstler wie Rony Plesl, Maxim Velčovský, Jan Plechac und Henry Wielgus.
Eine der bekanntesten Künstlerinnen ist die gebürtige Tschechin Lucie Koldová, deren großartige Glasentwürfe „Balloons“ und „Muffins“ von der Glasmanufaktur Brokis als extravagante Wohn- und Küchenleuchten umgesetzt werden. Die aus Glas, Stein und Metallreflektoren geformten Kunstwerke werden in ihrem außergewöhnlichen Äußeren nur übertroffen von der Kollektion „Memory“, die Koldova als Art Directorin von Brokis unter dem Entwurf von Designer Boris Klimek lancierte. Die weich geformten Glaskolben imitieren an der Decke schwebende Luftballons – aus zart mattiertem Glas. 2019 wurde Koldová für ihre Werke als „Czech Grand Designer of the Year“ ausgezeichnet.
Mit Erstaunen und Begeisterung nimmt man zur Kenntnis, wie gut vernetzt und einflussreich, wie stilvoll und selbstbewusst sich die tschechische Designszene für Interieur entwickelt hat. Hier und da mag purer Trotz die Triebfeder sein, dass das kleine mitteleuropäische Land mit einem sehr bewegten geschichtlichem Hintergrund bisher kaum auf dem vom Westen definierten Radar für Architektur und Innenraumdesign erscheint. Der tut den Projekten der Jungdesigner allerdings gut, weil er ihnen eine gewisse Verve verleiht, die zu besagen scheint: Je mehr wir provozieren, desto offensichtlicher nehmt ihr uns wahr. Das führt zu mitunter exaltiertem Glasdesign, das sich wunderbar in modernen Küchenräumen einsetzen lässt – und zwar in vielfältigen Formen.
Tschechische Glasbläserei-Kunst für Zuhause: außergewöhnliche Leuchten, Gläser, Vasen
Wer sein eigenes Zuhause mit tschechischer Glaskunst verschönern möchte, sollte aufmerksamer in den Osten schauen. Mut braucht es allemal, wenn man nicht auf angestaubtes Kristallglas, sondern auf aufregende Leuchtendesigns, hochwertige Weingläser und mundgeblasene Vasen setzen möchte.
An tschechisches Design herantasten lässt es sich beispielsweise mit der bekannten Marke Nachtmann, deren ikonisch gezackte Cocktailgläser vom tschechischen Studio deFORM mit großzügigen Blubberblasen („Bubbles“) neu gestaltet wurden. Strengen geometrischen Richtlinien folgt wiederum die Leuchtenserie „Polygons“ des Studios janandhenry, das damit an das traditionelle tschechische Handwerk des Glasschneidens anknüpfen möchte.
Hochelegante Designakzente setzt das Designstudio Dechem, das in der Kollektion „Bandaska“ mit filigran geblasenen Vasen unterschiedlicher Größe ein zartes Farbspektrum von Kobaltblau bis Safrangelb bespielt. Experimenteller geht es beim Vasenduo „Roura Vase“ der Marke zu, das trotz unverhohlener Glasoptik eine faszinierend zerknautschte Form nachahmt. Kunst, die man auch im Museum wiederfinden könnte – oder auf dem Küchentisch.
Als Enfant terrible der tschechischen Designszene macht sich Rony Plesl einen Namen, der sich mit seinen ungewöhnlichen Gestaltungsideen aus Glas bereits einen Platz im Victoria & Albert Museum beim London Design Festival 2019 sicherte. Seine Glasserie „PUNK“ kokettiert mit dem ewigen Kristallglas als Bodensatz eines mundgeblasenen Glases, das in eine schlichte, schlanke Form ausläuft.
Tschechische Glasbläserei neu gedacht: modernes Glas-Design fürs Leben
Die althergebrachte böhmische Kunst der Glasbläserei ist so viel mehr als ein angestaubtes Handwerk. Für zahlreiche junge Tschechinnen und Tschechen ist es eine Sprungfeder ins renommierte Designbusiness. Mehr noch ist es aber eine Chance, sich als Land neu zu präsentieren: Fernab von Knödel und Bier, von mittelalterlichen Städten und Heilbädern, vom ewig angestaubten Image des ehemals sowjetischen Schleiers, zeigt sich Tschechien heute modern, aufgeschlossen, zukunftsgewandt – und enorm designbewusst.
Als Moral von der Geschicht‘ bleibt, sich selbst vor Augen zu führen, wie oft das Material Glas ein fester Bestandteil unseres Alltags ist und dort neben funktionalen auch ästhetische Aufgaben übernimmt, sei es als Designleuchte in der Küche, als gehärtete Glasfront einer Küchenzeile, als schmuckes Weinglas am Abend; wie aufwändig der Weg von Sand und Wasser bis hin zur sorgfältig mundgeblasenen Vase ist – und wie wir uns mit dieser Art von Kunst viel öfter beschäftigen sollten. Denn wie erklärt es die tschechische Designfabrik mmcité so schön: „Gutes Design gehört nicht in die Galerie, sondern ins Leben.“
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