Sie denken bei Wabi-Sabi an die höllisch-scharfe, grüne Paste, die Ihnen vom letzten Sushi-Abend noch im Gedächtnis geblieben ist? Zumindest geografisch liegen Sie nicht ganz falsch: der Einrichtungs- und Wohntrend Wabi-Sabi kommt tatsächlich aus Japan. Doch statt Schärfe bringt er Geistesruhe und Klarheit mit sich: Wabi-Sabi orientiert sich an der imperfekten Perfektion, der unvollkommenen Schönheit. Wie sieht diese aus?
Schönheit liegt im Auge des Betrachters. So formulierte es einst der bedeutende griechische Historiker Thukydides, und so bewahrheitet es sich noch immer, was Menschen, Laufstegmode oder Einrichtungsstile anbelangt. Schönheit ist ein subjektives Konzept, das von jedem anders wahrgenommen wird.
Was ist Wabi-Sabi? Und was bedeutet es für den Wohnraum?
Die buddhistisch-japanische Lehre von Wabi-Sabi greift diese Meinung auf, geht aber noch einen Schritt weiter: nicht das, was offenkundig schön ist, wird zelebriert – sondern die verborgene, verhüllte Schönheit, die sich erst auf den zweiten Blick erschließt. Das kann ein moosbewachsenes Ziegeldach sein, ein Leberfleck auf makelloser Haut, oder, um in die Küche zu wandern, eine Lieblingstasse mit abgebrochenen Henkel und die verwachsene Patina einer jahrelang benutzten Arbeitsplatte.
Wabi-Sabi bedeutet wortwörtlich übersetzt eigentlich „einsam“ und „alt“, hat aber in der buddhistischen Lehre die Konnotation einer stilvollen, gereiften Patina übernommen, die mit Freude an ihrer Einzigartigkeit wahrgenommen wird. Um sich dieser Erkenntnis zu öffnen, soll sich der Mensch von allem Überflüssigen befreien. Für die Einrichtung von Wohnraum und Küche bedeutet dies: reduzierte Formen, Geradlinigkeit, ein zufriedenes Wohlgefühl an wenigen Dingen, die in ihrer unscheinbaren und herben Schönheit den Charme eines Zimmers ausmachen.
Was Wabi-Sabi mit Purismus verbindet – und davon unterscheidet
So gesehen ist Wabi-Sabi eng verzahnt mit einem puristischen Lebens- und Einrichtungsstil. Ähnlich wie der dänische Wohntrend „Hygge“ beschreibt Wabi-Sabi aber eher ein Gefühl, denn ein Möbelstück. Wabi Sabi ist minimalistisch, ohne kühl zu wirken; aufs Wesentliche konzentriert, ohne leer zu sein. Vor allem aber ist Wabi-Sabi nicht neu: die jahrhundertealte Lehre beinhaltet die Wertschätzung altgedienter Gegenstände, die behutsam restauriert oder in Szene gesetzt werden.
Man muss allerdings nicht auf dem Flohmarkt stöbern, um ein Gefühl der verborgenen Schönheit zu erlangen. Auch regionale kleine Läden, Schreinereien und Manufakturen greifen den Charakter des Wohntrends auf, weil sie entgegen des seelenlosen Konsums auf Individualität und Handarbeit setzen. Der unperfekte Purismus, wie Wabi-Sabi gern bezeichnet wird, kommt in Einzelanfertigungen aus natürlichen Materialien wie unbehandeltem Holz, unkoloriertem Leinen, handgemachter Keramik und handgeschliffenem Stein am besten zur Geltung.
Wichtig ist auch: Wer Wabi-Sabi lebt, muss sich selbst darin wiederfinden. In Zeiten moderner, sehr kühler Ästhetik fehlt in manch durchgestalteten Räumlichkeiten die Gemütlichkeit, in der ein Mensch sich fallen lassen und heimisch fühlen kann.
Wie man sich mit Wabi-Sabi in der Küche einrichtet
Wer Gefallen am Gedankengut der buddhistisch-japanischen Lehre gefunden hat, sollte sich im eigenen Zuhause zunächst gut umsehen und eine – zumindest gedankliche – Checkliste erstellen: welche Möbel gehören in meine Küche, welche sind überflüssig, und welche fehlen vielleicht noch, um sich wohlzufühlen? Entrümpelung ist ganz klar ein Teil des Konzepts von Wabi-Sabi, mit dem man durchaus die „optische Leere“ aushalten können muss.
Das heißt aber nicht, dass nun alle Einrichtungsgegenstände sofort über Bord geworfen werden müssen. Vielmehr sollte man sich fragen: was habe ich zuletzt häufig in der Hand gehabt? In welche Schüssel fülle ich am liebsten mein Morgenmüsli? Welches Regal benutze ich tatsächlich im Küchenraum, und welches ist vielmehr ein Staubfänger für nie genutztes, gutes Porzellan? Gibt es unnötige Küchenutensilien, die meine Schublade nicht mehr richtig schließen lassen? Gewürze, die herumstehen und nie benutzt werden? Oder brauche ich all das sehr wohl noch, schließe es aber in einer schönen alten Schatulle weg, um mich optisch jeden Tag daran zu erfreuen, wenn ich sie wieder öffne?
Wabi-Sabi ist immer auch eine Befreiung von überflüssiger Deko und ungenutzten Gegenständen, um den Geist – gemäß der buddhistischen Lehre – freier fließen zu lassen. Das kann trotz einer verringerten Zahl an Objekten durchaus gemütlich gestaltet werden: Decken, Kissen, Plaids und sanfte Vorhänge spielen eine Rolle, wenn sie dem Wohlgefühl dienen. Auch Farbe liegt im Auge des Betrachters.
Erd- und Weißtöne oder Holzfarben entsprechen der Gesinnungsruhe des Buddhismus am ehesten, können aber durch sanfte Pastelltöne ersetzt werden, falls die Küche durch die Minimalisierung zu nüchtern gerät. Erlaubt ist, was den Betrachter glücklich macht – und auf den zweiten Blick eine verborgene Schönheit offenbart, die ihre ganz eigene Geschichte erzählt.